Roger Federer: Der Mann, der Tennis neu erfand

tobi-redaktionTobi
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Nun verlässt der Maestro also doch die große Bühne. Über zwei Jahrzehnte lang hob Roger Federer den Sport in bis dahin unbekannte Sphären. Doch ungeachtet all seiner großartigen Rekorde, berührte der Schweizer Tennisästhet mit seiner spielerischen Eleganz ebenso die Herzen der Fans wie mit seiner menschlichen Bodenhaftung. Ein Rückblick in Ehrfurcht.

Körper zeigt die Grenzen auf

Die ausführliche und durchaus gut begründete Bekanntgabe seines Rücktritts - selbst wenn sie irgendwo erwartet worden war - löste ein weit über die Tennisszene hinausgehendes Erbeben aus. Selten war das Klischee des Endes einer Ära passender. Roger Federer verkörpert eine fast ein Vierteljahrhundert währende Epoche im Weltsport, die er mit seiner unverwechselbaren Genialität maßgeblich prägte.


Der Tweet, in welchem Roger Federer seinen Rücktritt verkündet.


Sein erstes Match auf der ATP Tour bestritt der Schweizer 1998 in Gstaad, das gegen den Argentinier Lucas Arnold Ker ebenso in einer Niederlage endete wie sein letzter Auftritt im Wimbledon-Viertelfinale 2021 gegen den Polen Hubert Hurkacz. Federer hätte sein Abenteuer gerne fortgesetzt. Er kann aber nicht. Sein Körper kann nicht.

Es war einmal in Wimbledon

Große Sportkarrieren gleichen sich nur allzu oft. Man weiß, wie sie enden, um so schwieriger ist aber zu bestimmen, wann sie eigentlich beginnen. Wo setzt man bei Roger Federer an? Beim Profi-Debüt 1998, das in seinem Junioren-Titel in Wimbledon und der Nummer eins unter den Gleichaltrigen gipfelte? Der ersten Andeutung eines Machtwechsels in Gestalt des legendären Achtelfinal-Sieges 2001 über Pete Sampras im All England Club? Der premieren Grand-Slam-Krönung 2003, ebenfalls an der Londoner Church Road?

wimbledon tennis ballMan weiß es nicht wirklich. Was man weiß, ist, dass das Wort Wimbledon sehr oft vorkommt. Wir wissen also wo alles begann. Der britische Rasenklassiker ist definitiv jenes Turnier, mit dem sein Name stets in Verbindung gebracht wird. Roger Federer hält den Einzelrekord von acht Titeln beim Londoner Major, wo er auch die schönsten Kapitel seiner so ruhmreichen Vita schrieb.

Paradoxerweise erlebte er an selber Stelle aber auch seine traumatischsten Niederlagen - 2008 im Endspiel gegen Rafael Nadal sowie im 2019er-Finale gegen Novak Djokovic: zwei der größten Matches aller Zeiten, gegen seine zwei erbittertsten Rivalen. Bis heute stellen Beobachter die Frage, ob er sich von der letzten Niederlage jemals erholte. Seine Fans jedenfalls nicht.

Die Highlights aus dem Finale 2008.


Lange Jahre keine Schwächephasen

Doch vor dem Aufstieg seiner beiden Kontrahenten, die mit ihm gemeinsam die Big Three bilden und von seiner eigenen Geschichte untrennbar werden sollten, führte Roger Federer den Tennissport in bis dahin unbekannte Sphären. Freilich gab es auch davor unzählige Ikonen, wie Tilden, Gonzales, Laver, Rosewall, Borg, Connors, McEnroe, Lendl, Agassi oder Sampras. Die Liste stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, doch all diese Champions hatten eines gemeinsam: einen Schwachpunkt, einen schlechten Schlag, einen ungeliebten Belag. Kurzum: Ab und an verloren sie.

Zu seinen Glanzzeiten schien Federer hingegen unantastbar, von Januar bis November, auf den unterschiedlichsten Böden. Ja, sogar auf roter Asche blühte er auf, selbst wenn er etwas länger brauchte, um den Heiligen Gral von Roland Garros zu erobern. Dies lag weniger an der fehlenden Einstellung auf der Terre Battue, sondern viel mehr an der unfassbaren Hegemonie eines spanischen Ausnahmetalents auf dem staubigen Untergrund.

hinweis ausrufezeichenAbseits von Paris, wo er 2009 endlich triumphieren sollte, gewann Federer praktisch alles, was es zu gewinnen gab. In den Jahren 2004, 2006 und 2007 holte er jeweils drei von vier Grand Slams, stand in zehn aufeinanderfolgenden Major-Finals und feierte insgesamt 41 ATP-Titel. Er frustrierte hochveranlagte Zeitgenossen wie Hewitt, Roddick, Safin und Co. auf ähnlich majestätische Art wie er die vorangegangene Generation ausgelöscht hatte.

Unvergleichliche Anpassungsfähigkeit

So mancher Beobachter mag vielleicht einwerfen, dass Roger Federer ein Produkt seiner Zeit war, der von der Homogenisierung der Böden profitierte, um seine ungeteilte Herrschaft zu festigen. Umgekehrt könnte der heute 41-Jährige allerdings auch ein Opfer dieser allgemeinen Entschleunigung der unterschiedlichen Courts gewesen sein, insbesondere des Rasenbelags. Auch er muss allmählich seine offensiv geprägte Spielanlage anpassen und einen für jede Geschwindigkeit effektiven Stil finden.

Mitte der Nuller-Jahre hätte wohl kaum ein Untergrund irgendetwas am Erfolgslauf von Federer geändert. Am Höhepunkt seines Schaffens gewann er allein deshalb, weil er weder technisch noch taktisch oder emotional Schwachstellen aufwies. Selbst die bis dahin so zauberhaft elegante, aber einigermaßen fragile Rückhand vermochte er zu revolutionieren.

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Die Entstehung der Big Three

Sogleich löste der Baseler unbewusst eine nahezu verrückte Rekordjagd aus, nachdem Rafael Nadal und Novak Djokovic die Bühne betreten hatten. Paradoxerweise trat Federer ausgerechnet 2009, als die Phase seiner Überdominanz allmählich abzuklingen begann, mit dem langersehnten Triumph in Roland Garros endgültig in den Pantheon des Weltsports ein. Wenige Wochen später streckte er in Wimbledon zum 15. Mal eine Grand-Slam-Trophäe gen Himmel und löschte so den vermeintlich unantastbaren Rekord von Pete Sampras aus, doch auch dieser sollte nur nur sieben Jahre halten.

Tennis trat nun in eine neue Dimension ein, in der die Protagonisten die Grenzen des Möglichen verschoben. Vor Federers Aufstieg war den Fans ein Rennen um die meisten Grand-Slam-Titel und der fiktiven Auszeichnung des Greatest of All Time ziemlich gleichgültig. Der Maestro hatte nicht nur vom sportlichen Niveau her die Tennisära 2.0 eingeleitet, sondern auch ein statistisches Zeitalter. Aber selbstverständlich tat er dies nicht allein, sondern hatte tatkräftige Unterstützung zweier Phänomene, die die Unverfrorenheit aufbrachten, ihm direkt in die Augen zu schauen.

nadal-djokovic-federerDas Ende einer Ära: Die Big Three.MehrWeniger

Zweifellos erwies sich der nicht unbeträchtliche Altersunterschied als Nachteil in seinem negativen Head-to-Head gegen Nadal und Djokovic, die später ihrerseits jeweils Phasen der Unbesiegbarkeit erreichen sollten. Doch ohne Federer hätte es kaum diese beiden Champions gegeben, vielleicht nicht einmal einen Carlos Alcaraz, der als perfekte Synthese der Big Three gilt. Federer hob das Level im Tennis so hoch, dass seine zwei Dauerrivalen selbst über sich hinauswachsen mussten. Hätten sie ohne den Ältesten denselben Antrieb aufgebracht? Wäre der gleiche Erfolgshunger entstanden?

Federer erfindet sich neu

Kaum hatten der Spanier und der Serbe das Ruder übernommen, zeigte der Schweizer eine andere Form von Größe. Jenseits der 30 hätte sich der gestürzte König, mit Ruhm und Geld gestillt, gut und gerne in den Ruhestand verabschieden können. Ungeachtet der steigenden Konkurrenz, die nicht zuletzt um Andy Murray erweitert wurde, und der sich häufenden physischen Probleme, beschloss Federer stattdessen, sich neu zu erfinden.

Dieser glanzvolle Ausbruch an Stolz mündete in zwei sensationelle Wiedergeburten. 2012 feierte er nach über zwei Jahren ohne Grand-Slam-Titel seinen siebenten Wimbledon-Sieg. Aber vor allem das Comeback 2017 nach sechsmonatiger Verletzungspause mit der unvergesslichen Krönung bei den Australian Open, wird ewig in Erinnerung bleiben. Im selben Jahr triumphierte Federer in Wimbledon. Und in einem finalen Glanzakt flog der inzwischen 36-Jährige in Melbourne förmlich zu seinem 20. Grand-Slam-Erfolg und avancierte zur ältesten Nummer eins aller Zeiten.

Roger Federers emotionale Rede nach dem Australian Open-Sieg 2019.


Die Legendensage schien aber kein Ende zu nehmen. 2019 rundete Federer seine Bilanz mit dem 100. ATP-Titel in Dubai und dem 100. Matchsieg in Wimbledon ab, ehe er bei eigenem Aufschlag zwei Matchbälle bei eigenem Aufschlag im Finale gegen Djokovic vergab. Der Anfang vom Ende! Dann meldete sich das Knie. Dann kam Covid. Dann wieder das Knie. Letztlich setzte der Zahn der Zeit dem Job ein Ende. Legenden sterben zwar nie, aber irgendwann ziehen sie sich zurück.

Übermenschliches Vermächtnis

Roger Federer wird eine nicht zu füllende Lücke im Sport hinterlassen. Ist er der Größte aller Zeiten? Wer weiß. Die Zahlen sprechen wohl gegen ihn. Die Emotionen, die er bei den Fans ausgelöst hat, sind jedoch unerreichbar. Aber woher kommen diese Gefühle? Vielleicht von der Ästhetik, über die er sein Spiel mit den so beispiellos flüssigen Bewegungen definierte. Und bei aller Brillanz opferte er nie Effektivität für Eleganz. Ob man diese Verbindung von Poesie und Blutrausch, die man auch in Zinedine Zidane oder Michael Jordan fand, jemals wieder auf einem Tennisplatz zu sehen bekommt? Fraglich.

Doch nicht nur der Sportler, auch der Mensch Roger Federer wird fehlen. Der stets höchst zuvorkommende, perfekte Kommunikator, der mit einer Leichtigkeit zwischen den Sprachen wechselt, verliert niemals die Bodenhaftung. In Stunden der Niederlage zeigte er sich oft in geradezu herzzerreißender Weise verletzlich. Mit seinen irdischen Schwächen bewegte er viele Leute mehr als mit seinem außergewöhnlichen Talent. Ein Tennisgott mit menschlicher Sensibilität, der in all seiner Genialität stets nahbar blieb.

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Autor: Tobi
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