Ein Russe in New York: Die große Medvedev-Fan-Reunion

tobi-redaktionTobi
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Vor zwei Jahren entwickelte Daniil Medvedev beim US Open nach massiven Anlaufschwierigkeiten eine außergewöhnliche Beziehung zum New Yorker Publikum. Kann der 25-Jährige nun mit den Fans im Rücken endlich sein erstes Major gewinnen? Über die nötigen Waffen verfügt der Weltranglistenzweite allemal.

Zwischen Genie und Wahnsinn

daniil medvedevKein Topspieler stellt Gegner und Publikum vor derart viele Rätsel wie Daniil Medvedev. Seine Schläge sind gleichermaßen unberechenbar wie sein Verhalten, er scheint sich permanent zwischen Genie und Wahnsinn zu bewegen, man weiß einfach nicht, was als nächstes kommt.

Erstmals machte der Russe in der Szene mit einem wilden Verlangen nach Winnern auf sich aufmerksam, ehe er verstand, dass Aufschlag, Reichweite und Beweglichkeit bei einer Körpergröße von 1,98 Metern noch zu wenig eingesetzte Waffen darstellten. Später lernte er, wie ein überraschender Netzangriff oder ein giftiger Slice sein reichhaltiges Arsenal weiter aufstocken könnten.

hinweis ausrufezeichenInzwischen deckt Medvedev den Platz selbst weit hinter der Grundlinie sensationell ab. Man glaubt zwar, dass er von solchen Positionen nicht gefährlich werden kann. Doch trifft er den Ball fast immer blitzsauber, schlägt ihn hart, mit sehr wenig Drall und lauert auf seine erste Chance zum Punktschlag. Die Rückhand spielt der Moskauer extrem flach, fast unter dem Ball, bietet dadurch kaum Angriffsfläche, schüttelt aber seinerseits unfassbare Konter aus schier unmöglichen Lagen aus dem Handgelenk.

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Komplexer Charakter

Während dieser spielerischen Entwicklung wurde Medvedev wohl bewusst, auf wie viele Arten sein Tennis den eigenen, so facettenreichen Charakter widerspiegeln würden. „Sich selbst zu beschreiben, ist immer schwer", gesteht der 25-Jährige. „Du glaubst, dich zu kennen, bis etwas in deinem Leben passiert, wo du dir denkst, okay, vielleicht habe ich mich geändert. Diesen Teil von mir kannte ich bisher noch nicht." Auf dem Court dürfte es ihm nicht wesentlich anders ergehen.

Er wolle ein so universeller Spieler wie nur irgendwie möglich werden, so der US-Open-Finalist 2019, der in diesem Jahr auch das Endspiel in Australien erreichte. „Teilweise wird behauptet, es sei besser, einen Schlag zu haben, der zu hundert Prozent funktioniert, als hundert, die zu achtzig Prozent funktionieren." Medvedev zieht die zweite Option vor. „Ich möchte möglichst viele Schlagvarianten zur Verfügung haben. Es macht mir Spaß, an Details zu arbeiten."

„Ich möchte möglichst viele Schlagvarianten zur Verfügung haben."
– Medvedev hat gerne ein Arsenal an Waffen parat.

Auf Hardcourts zu Hause

Um sein Spiel zu perfektionieren, legt der Weltranglistenzweite aber auch bewusst seinen Fokus auf die überaus lange Hartplatz-Saison, die sich bei Einbeziehung der Hallenturniere praktisch von der im August beginnenden US Open Series bis zum Sunshine Double von Indian Wells und Miami im April zieht.

So deklassierte der Rechtshänder auf dem Weg zu seinem bisher größten Titel bei den letztjährigen ATP Finals in London Novak Djoković, Rafael Nadal und Dominic Thiem nacheinander und schloss die Saison mit 10:0-Siegen ab, ehe er in Melbourne noch einmal zehn Erfolge am Stück drauflegte.

Doch vor allem in der Bruthitze des nordamerikanischen Spätsommers scheint sich Medvedev am wohlsten zu fühlen. Immerhin erlebte er 2019 mit vier Finals in Serie, inklusive jenem beim US Open, seinen großen Durchbruch. Höhere Temperaturen machen den Ball leichter, wodurch man weniger Kraft generieren muss, um die Filzkugel zu beschleunigen, was für Medvedevs Spielanlage wie geschaffen ist.


Regelmäßige Updates von den US Open gibt es auf Medvedevs Instagram-Kanal.

Liebe zum Spätsommer

Unabhängig von den ihm entgegenkommenden Bedingungen, schätzt der zwölffache Turniersieger aber ganz allgemein die Jahreszeit. „Der Sommer neigt sich dann dem Ende zu, ist aber noch nicht ganz weg", erklärt er. „Du versuchst, noch die letzte Brise Frischluft und die letzten Sonnenstrahlen einzusaugen - weil du weißt, dass nachher die Hallenturniere kommen und es kalt und ungemütlich wird."

US OpenDas US Open hatte bereits im Juni bekanntgegeben, in diesem Jahr die gesamten Zuschauerkapazitäten auf die Anlage des USTA Billie Jean King National Tennis Center auszulasten. Im vergangenen Jahr ging das Major noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Szene. Obwohl er abermals die Vorschlussrunde erreichen konnte, dürfte Medvedev nach seiner unvergesslichen Erfahrung mit dem Publikum 2019 die so kritischen Fans in Queens mehr vermisst haben als jeder andere Profi.

Agent Provocateur

Damals hatte er in seiner Drittrundenpartie gegen Feliciano López einem Balljungen rüde das Handtuch entrissen und die Zuschauer nach dem daraus gefolgten Pfeifkonzert verhöhnt. Doch erst beim On-Court-Interview brachte Medvedev die New Yorker so richtig in Rage. „Ich danke euch. Eure Energie hat mir den Sieg gebracht", provozierte er die Leute auf den Rängen. „Wenn ihr heute Nacht schlafen geht, sollt ihr wissen, dass ich nur wegen euch gewonnen habe."

Pfeiffkonzert für Medvedev, der sich prompt beim Publikum für dessen Unterstützung bedankt.


Zwei Tage später nahm die Nummer fünf der Setzliste den Schwarzwälder Dominik Koepfer aus dem Turnier und überraschte bei der anschließenden Pressekonferenz mit entwaffnender Ehrlichkeit. „Ich war ein Idiot", gestand der Moskauer. „Ich habe ein paar Dinge gesagt, auf die ich nicht stolz bin. Und ich arbeite daran, am Platz ein besserer Mensch zu werden. Weil neben dem Platz glaube ich, ein guter Mensch zu sein."

„Ich war ein Idiot."
– Medvedev gibt zu, sich nicht korrekt verhalten zu haben.

Fan-Herzen mit Anlauf erobert

Und plötzlich kippte die Stimmung. Medvedev eliminierte zunächst Stan Wawrinka, den US-Open-Champion 2016, und danach Federer-Bezwinger Gregory Dimitrov. Im Finale hatte er das gesamte Arthur Ashe Stadium auf seiner Seite, nachdem er nach einem 0:2-Satzrückstand Rafael Nadal noch in einen entscheidenden Durchgang gezwungen hatte.

Der Mallorquiner sollte zwar letztlich seinen 19. Grand-Slam-Titel einfahren, doch die an Nadal gerichteten Worte Medvedevs bei der Siegerehrung setzten der Torte die Kirsche auf. „Als ich auf der Videowand gesehen habe, Nummer eins, Nummer zwei, Nummer 19, dachte ich nur: Was werden sie zeigen, falls ich gewinne?" Auf die Selbstironie folgten herzhafte Lacher.

„If I would win, what would they show?" – Medvedev erobert die Herzen des Publikums in seinem post-match Interview.

Wiedersehen nach einem Jahr Pause

Danach sprach er das Publikum direkt an: „Während des Turniers habe ich etwas auf eine schlechte Art gesagt. Jetzt sage ich dasselbe noch einmal auf eine gute Art: Eure Energie hat mich ins Finale gebracht." Die 23.771 Sitze umfassende Arena bebte.

„Eure Energie hat mich ins Finale gebracht."
– Medvedev bedankt sich diesmal ganz ohne Ironie.

Auch der Einstieg bei den US Open 2021 ist bereits gelungen. Über den französischen Routinier Richard Gasquet (6:4, 6:3, 6:1) wie auch Dominik Koepfer (6:4, 6:1, 6:2) fegte Medvedev in Runde eins und zwei in jeweils drei Sätzen hinweg. Am Freitag wartet der Spanier Pablo Andújar in Runde drei.

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Autor: Tobi
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