French Open: Ein Starterfeld ohne König Rafael Nadal?
Sollte der seit Anfang des Jahres auf der ATP-Tour vermisste Rafael Nadal bis zu den French Open nicht fit werden, könnte sich für eine ganze Reihe von Sandplatzspezialisten eine enorme und vielleicht einmalige Chance in Paris bieten. Doch die Rolle eines plötzlichen Titelanwärters würde auch den Druck exponentiell steigen lassen.
Große Sorge nach YouTube-Clip
Am vergangenen Donnerstag tauchte über die Videoplattform YouTube ein kurzer Clip auf, der bei den Fans von Rafael Nadal die Alarmglocken schrillen ließ. Die Sequenz zeigt, wie der Spanier bei einer Trainingseinheit in seiner mallorquinischen Akademie offensichtlich mit physischen Problemen kämpft. Umringt von vier Teammitgliedern, inklusive Coach Carlos Moya, krümmt sich Nadal gegen einen Zaun lehnend vor Schmerzen, ehe er die Anlage verlässt.
Bedeuten die Bilder gar das Ende einer phänomenalen Ära, in der ein einziger Mann einer der größten Sportveranstaltungen der Welt seinen Stempel fester aufdrückte als sonst irgendeine Ikone in einer nur annähernd so populären Disziplin? Die Zeit läuft, der Hauptbewerb des Asche-Majors beginnt am übernächsten Sonntag.
Bordeaux-Wildcard abgelehnt
18 Jahre in Folge ist Rafa Nadal bei den French Open von Paris angetreten. Doch die seit den Australian Open mitgeschleppten Verletzungen am Hüftbeuger des linken Beines sowie der Leistenregion haben den unumstrittenen Sandplatzkönig seither vom Tour-Geschehen ferngehalten und könnten ihn auch daran hindern, seine imposante Bilanz in Roland Garros von 112 Siegen und nur drei Niederlagen weiter aufzupolieren. Einige Profis auf den Circuits der ATP und WTA waren noch nicht einmal geboren, als der Linkshänder sein erstes Match in Paris bestritten - und gewonnen - hatte.
Die French Open ohne Rafael Nadal wären ebenso schwer vorstellbar wie die Rolling Stones ohne Mick Jagger, wie ein Hamburger ohne Ketchup, wie Berlin ohne Brandenburger Tor. Nach der jüngsten Absage für das Masters-Event in Rom sollte man sich aber gedanklich darauf vorbereiten, zumal der bald 37-Jährige auch eine Wildcard für den Challenger kommende Woche in Bordeaux abgelehnt hat, dem letzten Termin vor dem Turnierstart in Paris.
Generation U30 läuft Zeit davon
„Womöglich werden wir Rafa nie wieder in Roland Garros erleben", betrachtet Jimmy Arias, Tennisakademie-Leiter des Vermarktungsriesen IMG, die Situation eher nüchtern. „Aber uns bleibt immerhin ein Novak Djokovic. Und wir werden sehen, ob ihn einer der jungen Wilden ersetzen kann."
Der einstige Weltranglistenfünfte, der 1981 den Mixed-Titel in Paris mit Andrea Jaeger holte, führt einen nicht unwesentlichen Punkt an: Das Zeitfenster für die Generation U30 schließt sich rasend schnell. Lange können die Herausforderer nicht mehr zeigen, dass sie es mit der Kunstfertigkeit aufnehmen können, die von den Big 3 tagein, tagaus produziert wurde und für insgesamt 64 Grand-Slam-Siege steht.
Turnierausgang wäre unvorhersehbar
Ohne den 14-maligen Paris-Champion im Turnierraster dürften die offenen französischen Meisterschaften zu einer wilden Achterbahnfahrt ausarten. Von den Top 10 im ATP-Ranking haben lediglich drei Spieler Major-Trophäen gewonnen: Novak Djokovic, Carlos Alcaraz und Daniil Medvedev, die zwei Letztgenannten jeweils nur einen. Und die Aversion des Russen gegen rote Asche ist bestens dokumentiert.
Ein weit offenes Feld voller Hoffnungen, Möglichkeiten und Erwartungen sollte fast zwangsläufig enormen Stress und Druck bei jenen Akteueren erzeugen, die sich als rechtmäßige Titelanwärter definieren. Das Fehlen Nadals würde dem Grand Slam einen ähnlich unvorhersehbaren Charakter verliehen wie olympische Tennisturniere oder der kaum weniger Überraschungen bietende Davis Cup.
Young Guns mit Siegergen infiziert
„In all den Jahren haben die Leute nur um den zweiten, dritten, vierten Platz gespielt", illustriert Pam Shriver, die fünf ihrer 22 Major-Triumphe in Doppel bzw. Mixed bei den French Open feierte.
– Pam Shriver
Der Druck der Titelchance
Und diese jungen Männer könnten die Gelegenheit auf Kosten der etwas Älteren nutzen, die lange Zeit als Thronfolger der Big 3 angekündigt wurden. Alexander Zverev, Stefanos Tsitsipas, Casper Ruud und Matteo Berrettini sind allesamt schon in Major-Finals gestanden, wurden aber längst von der nachrückenden Generation eingeholt. Selbst Djokovic könnten als unerwarteter Topfavorit ein paar schlaflose Nächte bevorstehen.
Auch in der Vergangenheit taten sich Herausforderer bei den wenigen Auflagen schwer, bei denen Nadal überraschend verloren hatte oder zurückziehen musste. Selbst Roger Federer verspürte bei seinem einzigen Paris-Titel 2009 eine enorme Last, weil er genau wusste, dass dies seine vielleicht einzige Chance in Roland Garros sein würde.
Die Traumata des Herrn Djokovic
Dass Djokovic mit einem allfälligen Finaltriumph am 11. Juni am Court Philippe-Chatrier seinen 23 Grand-Slam-Sieg feiern würde und alleiniger Rekordhalter wäre, dürfte zudem den Druck auf den 36-Jährigen nicht mindern. Bei vergleichbaren Ausgangslagen war der Serbe in der Vergangenheit wiederholt gescheitert.
So hatte Djokovic bei den US Open 2020 die Jagd auf Federer und Nadal aufgenommen, die zu dem Zeitpunkt mit jeweils 20 Majors drei große Titel mehr gewonnen hatten als er. Doch ließ der Djoker die Gelegenheit aus, nachdem er im Achtelfinale in einem unbeherrschten Augenblick eine Linienrichterin getroffen hatte und disqualifiziert worden war.
Zwölf Monate später war es kein Wutausbruch, der Djokovic den historischen Kalender-Slam in New York verwehrte. Vielmehr schaffte er es nicht, sein beispielloses Selbstvertrauen und die von der Konkurrenz so gefürchtete Dominanz ins Louis Armstrong Stadium zu übertragen und wurde im Finale von Daniil Medvedev für seine ungewohnte Passivität gnadenlos bestraft.
Dominic Thiem als warnendes Beispiel
Weil das Spiel schnell voranschreitet, sind diese Szenen gefühlt weit in der Vergangenheit zu finden, wie Dominic Thiem nur allzu gut nachempfinden kann. Bei den im Würgegriff von Corona gefangenen US Open 2020 eroberte der Österreicher seinen ersten Grand-Slam-Titel und avancierte so zum logischen Nachfolger von Nadal. Immerhin hatte Thiem schon davor zweimal das Endspiel und zweimal das Halbfinale der French Open erreicht, drei dieser vier Niederlagen hatte ihm der Mann aus Manacor zugefügt.
Eine hartnäckige Handgelenksverletzung warf die ehemalige Nummer drei der Welt, die 2020 auch in Australien ins Finale vorgestoßen war, völlig aus der Bahn, aktuell liegt der 29-Jährige gerade innerhalb der Top 100.
Kann Nadal auch ohne Matchpraxis gewinnen?
Lange ist es her, dass Rafael Nadal ohne gröbere Schwierigkeiten von Monte-Carlo über Madrid bis Paris durch die Sandplatzsaison fegte. Der 92-fache Sieger eines ATP-Events wird garantiert alles unternehmen, um bei den French Open sein erstes offizielles Match seit Mitte Januar in Melbourne zu spielen. Arias hat den Herrscher über Paris schon das ein oder andere Mal bei dessen Lieblingsturnier abgeschrieben, stets wurde er eines Besseren belehrt.
„Sollte Rafa in diesem Jahr doch antreten, würde ich seine Chancen aus den offenkundigen Gründen für eher gering halten", sagt der Amerikaner. „Und dann würde Rafa wahrscheinlich wieder gewinnen."