Unerzwungene Fehler: Aussagekräftige oder irreführende Statistik?
In einer auch den Tennissport erfassenden Datenwelt sorgt vor allem die unterschiedliche Auslegung der Unforced Errors regelmäßig für Kontroversen. Obwohl von Fernsehkommentatoren gerne in den Fokus gestellt, ist kein Wert derart stark von der menschlichen Einschätzung abhängig. Sollten die Fehler ohne Not endgültig für überholt erklärt werden und aus den Matchstatistiken verschwinden?
Nicht die ganze Geschichte
Erleichtert, das Viertelfinale erreicht zu haben, und trotzdem über seine exakt einhundert unerzwungenen Fehler beunruhigt, war Novak Djokovic bei den Australian Open 2016 nach einem aufreibenden 4:16 Stunden dauernden Fünfsatz-Marathon gegen Gilles Simon vom Platz gehechelt. Die Sorge stellte sich letztlich allerdings als grundlos heraus, holte er doch durch einen Finalerfolg über Andy Murray seinen sechsten von insgesamt zehn Titel beim Melbourner Happy Slam.
Statistiken geben die Handlung vor, erzählen aber nie die ganze Geschichte. Und wenn es bei den betreffenden Zahlen um Fehler ohne Not geht, kann die Erzählung durchaus verwirrend werden.
Kein Schlag ohne äußeren Einfluss
Erstmals aufgezeichnet wurden unerzwungene Fehler in den 1980er-Jahren vom inzwischen verstorbenen US-College-Spieler Leo Levin, der eine tragende Rolle in der Erfassung und Entwicklung von Tennisstatistiken einnahm, wie wir sie heute kennen.
Zum anderen stellt sich die Frage, wie man einen Fehler ohne Not genau definieren will. Kein Schlag im Tennis geschieht völlig unbeeinflusst von den Umständen oder dem Gegner. Am ehesten noch das Service, doch selbst die Spieleröffnung hängt vom Druck der jeweiligen Situation ab, dem Spielstand, dem Augenblick, dem Gegenüber oder der Qualität von dessen Return.
Tennis als Fehlerspiel
Laut Craig O'Shannessy, Statistik-Guru der ATP-Tour, haben unerzwungene Fehler das Verständnis des Spiels verändert - zum Schlechteren.
Er verstehe zwar, was Levin mit der Statistik erreichen wollte, sagt O'Shannessy, der u.a. auch Kolumnen für die New York Times schreibt.
Davon auszugehen, dass man in keiner Lage den Ball verschlagen sollte, sei daher die schlechtestmögliche Art, einen Punkt zu definieren.
„Den Ball immer und immer wieder ins Feld zu bringen, ist schwierig. Fehler sind ein inhärenter Bestandteil des Sports. Und um besser zu werden, musst du deine Grenzen ausloten. Gute Fehler helfen dir, dein Spiel auf das nächste Level zu heben", so O'Shannessy.
Schwammige Definition
„Können wir bitte das Thema wechseln", musste Novak Djokovic vor wenigen Wochen beim Masters-Turnier in Monte-Carlo lachen, als er auf jenes Match in Melbourne gegen Simon angesprochen wurde. „Je niedriger die Zahl ist, desto besser läuft's natürlich. Die Menge an unerzwungenen Fehlern hängt aber auch von der Tagesverfassung ab, vom Gegner und ob er dir eine aggressivere oder verhaltenere Taktik abverlangt. Zwingt er dich zu mehr Risiko, steigt die Zahl. Sehr viele Faktoren können die Höhe der Unforced Errors bestimmen."
Daniil Medvedev wiederum meint, dass Fehler ohne Not sehr wohl ein Indiz für die Leistung sein können, doch gebe es auch Gründe, warum man ihnen nicht eine zu hohe Aussagekraft beimessen sollte.
Nur Winner und Fehler
Beispielhaft für die schwierige Einschätzung war ein Experiment, das O'Shannessy bei drei verschiedenen Trainertagungen ausführte. Er zeigte den Teilnehmern zehn Ballwechseln zwischen Rafael Nadal und John Millman bei den US Open. Als Gruppe mussten sie entscheiden, ob es sich um erzwungene oder unerzwungene Fehler handelte.
Und immerhin seien Coaches ausgewiesene Experten auf diesem Gebiet. „Wir kennen zu hundert Prozent den Unterschied zwischen einer Vorhand und einer Rückhand. Wir wissen, was ein Winner und was ein Fehler ist. Wir brauchen schließlich Fakten in unserem Sport, die zu hundert Prozent Konstante sind." Deshalb hat das ehemalige Mitglied des Betreuerstabes von Novak Djokovic einen sogenannten Matchaufklärungsbericht entwickelt.
Mehr erzwungene als unerzwungene Fehler
Das Aufzeigen von Unforced Errors erhält von Fernsehkommentatoren und Journalisten einen zusätzlichen Fokus, die verständlicherweise jene Statistiken ausschlachten, die ihnen aufbereitet werden. „Vor allem zu Beginn eines Ballwechsels passieren viele Fehler", weiß O'Shannessy, der neben seiner Tätigkeit bei der ATP auch mit Matteo Berrettini zusammenarbeitet. „Und mit dem Etikett ,unerzwungen' meinen wir meistens Fehler bei kurzen Rallyes. Lange Ballwechsel mit mehr als neun Schlägen werden als gute Rallyes bezeichnet, kommen aber nur zu zehn Prozent in einem Match vor."
Das Grand-Slam-Turnier mit der größten Häufung an erzwungenen Fehlern ist Wimbledon, weil in der Regel keine langen Ballwechsel auf dem Rasen entstehen. Bei 71 Prozent der Punkte fliegt der Ball an der Londoner Church Road nur zwischen ein- und viermal über das Netz. Rechnet man die Zahlen aller vier Majors zusammen, gibt es mehr erzwungene als unerzwungene Fehler, was in erster Linie an der Statistik bei den All England Championships liegt.
Grundsätzlich müsste man alle drei Kategorien, erzwungene und unerzwunge Fehler sowie Winner gleich gewichten, meint der Statistik-Chef der Spielervereinigung. Doch würden TV-Reporter die letzten zwei Arten, eine Punkt zu beenden, permanent aufzeigen und die eigentlich häufigste unerwähnt lassen.
Keine Unterscheidung mehr
Selbst wenn der erzwungene Fehler einen präziseren Indikator für den Punktgewinn darstellt, geht Djokovic davon aus, dass Unforced Errors wie auch alle anderen Statistiken bald nicht mehr von Menschen erfasst werden.
Die ATP-Tour wisse sehr wohl um die Bedeutung des erzwungenen im Vergleich zum unerzwungenen Fehler, versichert O'Shannessy. Bald, wenn auch nicht sofort, werde es die Unterscheidung nicht mehr geben. „In all meinen Analyseberichten weise ich die ATP und die Tour-Statistiker von Infosys darauf hin, und beide sind an sich begeistert. Wenn ich aber darauf dränge, auf die Erfassung der Unforced Errors zu verzichten, steigen sie auf die Bremse - noch."
Der Schlüssel zur endgültigen Überzeugung der Institutionen liege in weiteren evidenzbasierten Studien, wie jene mit den deutschen Coaches. „Denn wenn es die Deutschen nicht wissen, wer dann?"