Ashleigh Barty: Beginn einer Ära?
Spätestens seit dem Titelgewinn bei den Australian Open ist Ashleigh Barty in ihrer Heimat zur Nationalheiligen avanciert. Dabei taugt die wohl kompletteste Spielerin auf der Tour gar nicht zum Superstar. Mit dem Glanz und Glamour der Tennisszene weiß die so volksnahe und bodenständige Weltranglistenerste wenig anzufangen. Sie will einfach nur spielen.
Nationales Trauma beendet
Ihre Erdung und Bescheidenheit sind ansteckend. Und sie läuft nie Gefahr, vom Tall-Poppy-Syndrom vereinnahmt zu werden - jenem ureigenen australischen Phänomen, bei dem man Menschen für ihren beruflichen Erfolg kritisiert oder herabgewürdigt, um von der eigenen Mittelmäßigkeit abzulenken.
Ganz im Gegenteil, Ashleigh Barty ist in ihrer Heimat endgültig zu Everybody's Darling emporgestiegen, beendete sie doch in Melbourne ein 44 Jahre anhaltendes nationales Trauma. Seit 1978 hatte das Gastgeberland bei den Australian Open keinen Champion in den Einzelbewerben bei Damen oder Herren gestellt, Ende Januar stürmte die zierliche junge Frau aus dem Bundesstaat Queensland in beeindruckender Manier zum Titel.
I'm so proud to be an Aussie 💙 pic.twitter.com/ELbsqR4Vv8
- Ash Barty (@ashbarty) January 29, 2022
Ashleigh Barty's Liebeserklärung an Australien nach ihrem Sieg bei den Australian Open.
Mit Bescheidenheit zu Sympathiepunkten
„Australier haben so eine so große Geschichte in diesem Sport. Ein nur sehr, sehr kleiner Teil davon zu sein, ist etwas, wovon ich immer geträumt habe", sagte Barty im vergangenen Sommer, nachdem sie in Wimbledon triumphiert hatte, wo Australien 19 Jahre auf einen Titel gewartet hatte.
In ihrer so geschmeidig unterschnittenen Rückhand, ihrer unbeschwerten Leichtigkeit auf dem Platz, ihrer unbändigen Liebe zum Doppel und in ihrem bedingungslosen Teamgeist ist diese sympathische Bodenhaftung förmlich zu spüren. Barty spricht in Zusammenhang mit sportlichen Errungenschaften immer nur von „wir", weil sie darauf Wert legt, auch den Betreuerstab in die Erfolge miteinzubeziehen.
Antithese zum Powertennis
Andererseits macht sie nie mehr als notwendig, um den Punkt zu gewinnen. Zusätzlich hat Barty eine auf der vom Powertennis dominierten Damen-Tour selten vorkommende Waffe entwickelt: Sie vereint ihren einhändigen Slice mit dem Bihänder-Drive und lässt beide Schläge natürlich rund aussehen.
Und während der Pandemie, behauptet die dreifache Major-Gewinnerin, hätten die leeren Tennisstadien ihr erlaubt, dem Spin zuzuhören, den ihre Gegnerinnen dem Ball verpassten. Spricht man im Zusammenhang mit begnadeten Akteuren oft von ausgezeichneter Hand-Auge-Koordination, so kann Barty, die vor Melbourne und Wimbledon auch in Paris 2019 gewonnen hatte, offenbar auch ihrer Ohr-Auge-Koordination vertrauen. „Ich wollte schon als Kind, lernen, alle Ecken des Courts zu treffen. Jetzt fühle ich, mir dadurch ein komplettes Spiel angeeignet zu haben."
– Ashleigh Barty.
Botschafterin der Ureinwohner
Die Aussie-Wurzeln könne man nicht nur an ihrem Spielstil, sondern auch an der Form ihrer Nase erkennen, wie sie selbst meint. Schließlich ist Vater Rob ein direkter Nachkomme des Aboriginal-Stamm der Ngarigo. „Als sie zur Welt kam, haben wir sofort gesehen, dass bei ihr mein indigenes Erbe durchkommt", erzählte Rob dem Webportal WTAtennis.com.
Tochter Ash trägt den Titel des „National Indigenous Tennis Ambassador for Australia", zur Evonne Goolagong, einer Grand-Slam-Siegerin des Wiradjuri-Stamms, verbindet sie eine enge Freundschaft. Und wenn sich die Weltranglistenerste in ihrer Heimat befindet, hält sie regelmäßig in Ureinwohner-Gebieten Tenniscamps ab.
Mit Bier in der Fankurve
Diese Aktivitäten und ihr sanftes Wesen tragen dazu bei, dass man in Down Under kaum jemanden findet, der ein negatives Wort über Barty verlieren würde. Ihr Aufstieg und die Konsequenz, mit der sie ihren Job erledigt, stellt für viele Tennisfans gar eine Erleichterung dar, während sie sich vom permanent flegelhaften Verhalten der männlichen Topspieler Nick Kyrgios und Bernard Tomic enttäuscht zeigen.
Und dass Barty in dieser sportverrückten Nation nicht anders tickt als der Durchschnittsaustralier, fördert ihre Popularität zusätzlich. Gerne mischt sich die Tennisproette, die bisher knapp 24 Millionen Dollar an Preisgeld eingespielt hat, bei Partien der australischen Rules-Football-Liga mit einem Bier in der Hand in der Fankurve unter das Volk.
Tennis nicht immer im Mittelpunkt
Ihre allererste Kindheitserinnerung hat sie vom Tennis, gesteht Ashleigh. Mit vier Jahren will sie ein Racket mit gerissener Saite genommen und den Ball stundenlang gegen die Hausmauer geschlagen haben. Diese unermüdliche Hingabe veranlasste die Eltern Rob und Josie, die selbst nie Tennis spielten, ihre Tochter zu fördern.
Beim örtlichen Tennisklub angefragt, ließ Jim Joyce zunächst Skepsis durchblicken. Im Normalfall arbeite aufgrund der geringen Aufmerksamkeitsspanne nicht mit Kindern unter sieben Jahren, so der Trainer. Schließlich willigte er doch ein und warf am Anfang der Schnuppereinheit einen kaputten Tennisball aus dem Spielfeld, dem Ash sofort nachjagte, um ihn zu schlagen versuchen. „Du kannst nächste Woche wieder kommen", gab Joyce unmittelbar darauf grünes Licht für ein Coaching.
– Als Vierjährige überzeugte Barty Trainer Jim Joyce, sie unter seine Fittiche zu nehmen.
Dies untermauerte sie 2014, als der Spaß am Court verloren gegangen war. Barty zögerte nicht, den Tennisschläger ins Eck zu stellen und stattdessen professionell zum Cricket-Bat zu greifen. „Die Pause gab mir die Chance, ein ganz normales Mädchen zu sein", blickt die Rechtsauslegerin durchwegs positiv auf die Zeit zurück, nach der sie mit wiedergefundenem Enthusiasmus zurückkehrte.
Familiäre Energiequelle
Auch im Vorjahr zog Barty vor den WTA-Finals, bei denen sie als Titelverteidigerin angetreten wäre, aufgrund der strengen australischen Einreisebestimmungen neuerlich den Stecker, nachdem sie von Februar bis Dezember auf Achse gewesen war. Sportlich hatte sich das Globetrottern allerdings ausgezahlt, gewann sie in dieser Phase ja fünf Turniere auf drei verschiedenen Belägen und beendete die Saison zum dritten Mal in Folge als Nummer eins der Welt.
Die Auszeit bot ihr die Gelegenheit, einige Monate bei der Familie Energie zu tanken, zu der auch die Schwestern Ali und Sara sowie ihr Verlobter Garry Kissick, ein Profigolfer, zählen. Daheim in Ipswich im Nordosten des Landes findet sie Rückhalt und Geborgenheit, wie Barty stets betont.
Selbst auf der Tour schafft sie sich ein entsprechendes Umfeld, um der Einsamkeit entgegenzuwirken. Zu den zahllosen Protagonistinnen, die keinen Wert auf Freundschaften am Circuit legen, zählt die lebensfrohe Australierin definitiv nicht. So pflegt sie zu einigen Spielerinnen ein sehr ein enges Verhältnis, so etwa zu ihrer früheren, inzwischen zurückgetretenen Doppelpartnerin Julia Görges.
Beste Zeit steht noch bevor
„Was sie so einzigartig macht, ist ihre umgängliche Art", verrät Courtney Nguyen, Kolumnistin auf der WTA-Webseite. „Diesen Charakterzug teilt sie mit Roger Federer. Gegnerinnen können ihr nicht einmal böse sein, wenn sie verlieren, weil sie Ash so mögen. Das ist gar nicht so einfach, wenn du die Nummer eins bist."
– Courtney Nguyen von WTAtennis.com
Im April feiert Barty ihren 26. Geburtstag, mit drei Grand-Slam-Siegen in der Tasche steht ihr bestes Tennisalter also noch bevor. Mit einem ohnehin wesentlich kompletteren Spiel als die gesamte Konkurrenz ausgestattet, sollte sie in den kommenden Jahren eigentlich noch stabiler werden, wodurch sie das Damentennis über Jahre hinaus dominieren könnte.
Doch vor allem ihr Arbeitsethos und die Einstellung zum Leben im Allgemeinen sollten als Vorbild dienen. In den Zeiten, in denen die psychische Gesundheit von Sportlern und jungen Menschen in den Vordergrund rückt, bietet Barty nicht nur einen verlässlichen Fahrplan, wie man im Scheinwerferlicht besteht, sondern auch, wie man sich davon zurückzieht.