Fit for Future? Traditionen vs. Reformwille im Tennis

tobi-redaktionTobi
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Die Australian Open haben verdeutlicht, wie sehr der Tennissport seinen traditionellen Wurzeln entwachsen ist. Die komplexen Strukturen können mit der ständigen Professionalisierung nicht mehr Schritt halten. Um die Disziplin zukunftsfit zu machen, wäre ein radikaler Relaunch nötig.

Endlose Night Sessions

Mit etwas Abstand verdienen Andy Murrays nächtliche Einlagen bei den Australian Open, die den 35-jährigen Evergreen mit seiner künstlichen Hüfte in aufopfernden und fesselnden Marathonmatches bis um 4:00 Uhr Früh über die Rod Laver Arena rennen ließen, eine genauere Nachbetrachtung.

Ich kann nicht glauben, dass wir nach diesem Match hier sitzen und tatsächlich über dieses Thema reden", zeigte sich Murray nach dem 5:45 Stunden langen 4:6, 6:7 (4), 7:6 (5), 6:3, 7:5 gegen Lokalmatador Thanasi Kokkinakis den übernächtigten Journalisten im Medienzentrum gegenüber frustriert. Schon zum Auftakt war er bis in die tiefe Nacht gegen Matteo Berrettini über die volle Distanz gegangen. „Die Partie hat eher in einer Farce geendet als in einer epischen Fünfsatz-Schlacht."

andy-murray-21-09-2021-metzAndy Murray quälte sich durch lange Night Sessions.MehrWeniger

Verschiedene Interessen, widersprüchliche Ziele

Seit geraumer Zeit stellt sich bei Grand-Slam-Turniere die Frage, wie man zu einer vernünftigen Lösung kommen könnte, um Best-of-Five-Matches nicht zu absurden Zeiten austragen zu müssen. Ein völliges Umdenken vonseiten der Veranstalter ist kaum zu erwarten. Der Tennissport hat sich bei der Verfolgung teils widersprüchlicher Ziele abhängig und handlungsunfähig gemacht, damit man die verschiedensten Interessen bedienen kann.

Die Majors vermarkten zwar Geschlechtergleichstellung auf unzähligen Ebenen, inklusive bei den Spielansetzungen, die beiden Touren stellen aber von einander gänzlich unabhängige Organisationen dar. Und selbstverständlich haben auch mediale Rechtehalter ein Wort mitzureden. Die Verantwortlichen wollen ein für das junge Publikum attraktives Spektakel promoten, ohne Puristen zu vergraulen, finden aber immer seltener einen gemeinsamen Nenner, der auch die Topstars zufriedenstellt.

Der Sport scheint seinen ursprünglichen Strukturen entwachsen zu sein, versucht sich aber weiterhin an traditionelle Werte und Regeln zu klammern. Eine sperrige, veraltete Organisationsmatrix bremst echten Fortschritt, unter Stress bröckelt die Fassade der Professionalität. Und eine einfache Lösung ist nicht in Sicht. Einige Punkte könnten aber sehr wohl geordneter konzipiert werden.

Bündeln der Kräfte

Dass sich die ATP über Fusionspläne mit der WTA eher zurückhaltend gibt, ist durchaus verständlich, wirft die Herren-Tour im Tagesgeschäft doch deutlich mehr Profit ab. Doch könnte man substanziellere Solidaritätsbekundungen zeigen, als lediglich die Unterschiede in der Zählweise der Weltranglistenpunkte auszubügeln oder die verschiedenen Turnierkategorien zu vereinheitlichen.

infoEin Beispiel wäre die Haltung gegenüber China. Die WTA boykottiert nach der Affäre um Peng Shuai weiterhin hartnäckig das Reich der Mitte. Die ATP wiederum hat nach dreijähriger Absenz das Comeback von chinesischen 1000ern und 500er-Events im kommenden Herbst angekündigt, falls es die behördlichen Covid-19-Regularien erlauben.

Wunderdinge sind allerdings nicht zu erwarten, selbst wenn die aufstrebende, von finanzstarken Investoren unterstützte Professional Tennis Players Association die ATP-Tour zu Fall bringen sollte. Auf eine Rückkehr nach China angesprochen, meinte etwa PTPA-Mitbegründer Novak Djokovic fast resignierend:

Ich hoffe, die Lage ändert sich bald, damit wir wieder dort spielen können. Keine Ahnung, was bis dahin passiert. Es liegt letztlich auch nicht an mir, die Entscheidung zu treffen."

Chair Umpire in Managementrolle

Auch die Rolle der Unparteiischen gehört überdacht. Wie Stuhlschiedsrichter ihre Matches leiten, ist selbst lange Jahre nach der Professionalisierung des Sports schlicht amateurhaft. Exemplarisch lässt sich der Integritätslevel an Mohamed Lahyani festmachen, einem der renommiertesten Chair Umpire auf der Tour. In einer US-Open-Partie von Nick Kyrgios kletterte der Spielleiter von seinem Stuhl herab, um dem zurückliegenden Tennisrüpel eine Motivationsansprache zu halten. Der Australier drehte das Match, für sein mangelndes Gespür wurde Lahyani aber mit einer Sperre von zwei Turnieren belegt.

RufzeichenDer Schwede und seine Kollegen sind längst trainierte Berufsschiedsrichter, doch lebt die Tradition der Chair Umpire weiter, Matches eher zu managen, als die Regeln rigoros zu exekutieren. Eigentlich verbieten die Leitlinien explizit das Anfreunden - oder auch das Anfeinden - von Schiedsrichtern und Spielern abseits des Courts, was in der Realität aber gang und gäbe ist.

Mehr Macht den Unparteiischen

Verglichen zu anderen Sportarten kommen Tennisspieler mit so ziemlich allen Respektlosigkeiten durch, wenn sie sich in Diskussionen mit Schiedsrichtern einlassen. Einige Akteure reizen im Wissen, dass eine Disqualifikation die gesamte Show abrupt stoppen würde, die Grenzen der Provokation komplett aus, was John McEnroe einst zur hohen Kunstform erhob. Eingeschüchterte Referees agieren daher oft als Therapeuten, um die schäumende Profis zu besänftigen.

Den geprügelten Chair Umpiren uneingeschränkte Macht zu verleihen, wäre wohl zu weit gegriffen. Doch müsste man die Jobbeschreibung ernsthaft überarbeiten, damit sie als respektierte Autoritätspersonen angesehen werden. Nur so können sie bei Verletzung des Verhaltenskodex schnell und entschieden handeln, selbst wenn einige Regeln, wie zum Beispiel die für Behinderung, Interpretationsspielraum lassen. So sollte exzessives Schreien oder Kreischen als Behinderung oder unsportliches Verhalten gewertet werden.

Engeres Regelwerk

Wie stark die Regeln inzwischen gedehnt werden können, unterstreicht eine Szene im Zweitrunden-Match der Australian Open zwischen Jeremy Chardy und Dan Evans. Als ein Ball in der Aufschlagbewegung des Franzosen aus seiner Hosentasche des Franzosen sprang, wurde die Let-Regel angewendet, die in einem ermüdenden Hickhack endete, ob der fehlgeleitete Ball nun das Spiel beeinflusst hätte oder nicht. Einen Videobeweis für einen derartigen Vorfall heranzuziehen, wäre vermutlich reine Zeitverschwendung.

ZitatMeiner Meinung nach solltest du den Punkt verlieren, wenn der Ball aus deiner Hose fällt", vertrat der Brite im Anschluss einen klaren Standpunkt. „Warum sollte es ein Let sein? Das ist die schlechteste Regel überhaupt. Es ist ja dein eigener Fehler."

Auch an kleinen Stellschrauben drehen

Natürlich ist dieser Fall keine große Sache. Doch zeigt die fehlende Richtlinie, wie sehr der Faktor Sportsgeist bereits in das Regelwerk eingebettet ist. „Mein Gott, der Ball ist herausgehüpft, wiederholen wir ihn einfach!" Umgekehrt wird klassischer Sportsgeist mittlerweile immer mehr als unzeitgemäß gesehen. Warum wird ein Netzaufschlag wiederholt? Warum darf man einen schlechten Aufwurf bei der Spieleröffnung herunterfangen? Und überhaupt, warum ist ein zweites Service erlaubt, wenn das erste nicht sitzt?

Niemand wird an der letzten Regel schrauben wollen, aus gutem Grund. Sie verleiht dem Spiel eine strategische und taktische Dimension, die den Tennissport interessanter gestaltet.

Vorteil Superstar

Andere Baustellen verdienen eine wesentlich genauere Prüfung. So bestritt Supertalent Coco Gauff all ihre drei Matches beim Happy Slam in der Rod Laver Arena, dem Center Court des Melbourne Parks, obwohl die Anlage über drei Stadien mit verschließbarem Dach verfügt. Die weit weniger im medialen Fokus stehende Wimbledon-Siegerin Elena Rybakina, die es immerhin bis ins Finale schaffte, spielte einen Großteil ihrer Matches hingegen auf Außenplätzen.

Den Stars wird die Ehre der großen Bühne erwiesen und bringt ihnen zweifellos einen Vorteil ein - vielleicht nicht einen derart krassen wie Roger Federer im Spätherbst seiner Karriere. Der Schweizer durfte in den letzten Jahren immer in der Night Session unter kühleren Bedingungen in der Rod Laver Arena ran.

roger-federer-us-openAuch Roger Federer profitierte von seinem Status.MehrWeniger

Preisgeldschlüssel fairer gestalten

Auch der Schlüssel bei der Preisgeldverteilung ist den Reformern ein Dorn im Auge. Naomi Osaka, mit 51,1 Millionen Dollar Topverdienerin unter den weiblichen Sportstars 2022, nahm mit der bescheidenen Matchbilanz von 14:9-Siegen lediglich 1,2 Millionen bei der Ausübung ihres eigentlichen Berufes ein, der Rest kam vorwiegend aus Sponsorverträgen.

Bei anderen Tennisikonen ist das Verhältnis ähnlich gelagert. Eine andere Gewichtung der Preisgelder mit einem höherem Anteil für das Ausscheiden in frühen Turnierphasen scheint insofern überaus naheliegend zu sein.

Tennis hat sich über die Jahrzehnte zu einer reformresistenten Disziplin entwickelt. Will man dem Sport ein modernes, zukunftsträchtiges Erscheinungsbild verleihen, erfordert die verkrustete Struktur und komplexe Organisation eine massive Überarbeitung des Status Quo.

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Autor: Tobi
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