Ashleigh Barty: Ein verstandener, aber vermisster Star
Fast heimlich, still und leise trat Ash Barty vor genau einem Jahr als amtierende Australian-Open-Siegerin und Nummer eins der Welt von der großen Tennisbühne ab. In ihrer bewegenden Autobiografie gibt die 26-Jährige nun Einblicke in ihr Seelenleben und erklärt, warum sie ihre so erfolgreiche Karriere am Höhepunkt beendete.
Keine Vorzeichen
Rücktritte im Tennis sind zum überwiegenden Teil nachvollziehbar. In der Regel ist es der Körper, der den Entschluss des Sportlers forciert. Wenn Routiniers physisch nicht mehr dem eigenen Anspruch gerecht werden und auf dem erhofften Niveau mithalten können, weil auch der emotionale und mentale Verfall die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt, geht der ganze Antrieb verloren.
Wegen der Kombination dieser Faktoren haben die Tennisfans Verständnis für die Entscheidung alternder Stars, ihre Karrieren zu beenden. Doch dann gibt es diese seltenen Momente, die scheinbar jeder Logik widersprechen. So wurde die Szene vor genau einem Jahr von der Erklärung Ashleigh Bartys, dem Profitennis den Rücken zu kehren, völlig überrascht.
Karriereende am Höhepunkt
„Ich weiß einfach, dass ich komplett ausgelaugt bin und physisch nichts mehr zu geben habe", begründete die Australierin in einem Aufsehen erregenden Fernsehinterview ihren unerwarteten Schritt.
Nicht der erste Rücktritt
Dass ein durch und durch beliebter Champion am Höhepunkt seines Schaffens aufhört, hat Seltenheitswert. Allerdings hatte Ash Barty schon zuvor einmal ein Sabbatical eingelegt. Ende 2014 stellte sie ihren Schläger ins Eck und probierte im professionellen Cricketsport, ehe sie Anfang 2016 auf die Tour zurückkehrte und so richtig durchstartete.
Was ihren wohl endgültigen Rückzug für die Tennis-Community umso trauriger macht, ist die Art und Weise, wie Barty ihre Matches gewann. Unabhängig von der Ära sind die Werkzeuge, die gerade am Damen-Circuit auf höchstem Level Erfolg bringen, sehr überschaubar.
Alleinstellungsmerkmal Facettenreichtum
Dominieren heute krachende Grundschläge, so stand einst das Serve-and-Volley im Vordergrund, beide Herangehensweisen zu ihren jeweiligen Epochen als „The Big Game" bezeichnet. Aus der Perspektive der Fans ergeben die Ähnlichkeiten der vorherrschenden und pragmatischen Strategien ein eher eintöniges Bild.
Würdiges finales Finale
Das letzte Match ihrer Karriere entwickelte sich zu einer beispielhaften Aufführung ihres gesamten Repertoires. Im Finale der Australian Open 2022 gegen Danielle Collins hatte Barty den ersten Satz mit 6:3 gewonnen, die kraftvollen Grundschläge der Amerikanerin zwangen sie aber im zweiten Durchgang, in einen höheren Gang zu schalten.
„Danielle holt das Break zum 5:1, dreht sich zu ihrem Team und schreit, come on!", schreibt Barty in ihrer soeben erschienenen Autobiografie My Dream Time: A Memoir of Tennis and Retirement.
– Auszug aus der Biografie von Ashleigh Barty
Die Lokalmatadorin kämpfte sich zurück, erzwang einen Tiebreaker, übernahm das Kommando und beendete das Match mit einem Vorhand-Cross-Passierball. Ehe sie die Trophäe aus den Händen ihres Vorbilds Evonne Goolagong entgegennahm, hatte die Rechtsauslegerin einmal mehr bewiesen, warum sie zu einer australischen Tennislegende hochgestiegen war.
Kein passionierter Globetrotter
Auch mit ihrer ausgeprägten Heimatverbundenheit ist Barty ein Unikat. Über lange Jahre hatten australische Spieler den Ruf, die erste Chance zu ergreifen, den abgelegenen Kontinent zu verlassen, die Welt zu erkunden und das Leben als Tennisprofi in vollen Zügen zu genießen. „Wenn du auf Achse bist, dreht sich alles nur um Tennis", erklärt Allzeit-Ikone Rod Laver. „Du musst dich selbst fragen: Liebe ich diesen Sport? Mag ich den Wettbewerb? Ja hoffentlich."
Für Barty stellte das Reisen aber immer ein zweifelhaftes Vergnügen dar. Im ersten Pandemiejahr 2020 spielte die 15-fache Gewinnerin eines WTA-Events nach Januar kein einziges Match mehr. Zwölf Monate später, als sich ganz Australien im Lockdown befand, verließ sie mit ihrem Betreuerstab das Land und kehrte erst nach den US Open zurück. Etwa genauso lange Phasen hatten einst Laver und seine Mates Jahr für Jahr fern der Heimat verbracht.
Reisen für Aussies besonders mühsam
Das Reisen in den Sechzigern war mit den heutigen Globetrottern freilich nicht zu vergleichen. Obwohl die Akteuere am Tennis-Circuit damals nicht annähernd so viel Geld verdienten, blieben ihnen zahlreiche nervende Begleiterscheinungen erspart. Passagiere marschierten seinerzeit direkt zu ihren Flugsteigen, Metalldetektoren wurden erst 1973 eingeführt. Und natürlich sah sich die Welt nicht im Würgegriff einer globalen Pandemie, die zusätzliche Hürden mit sich brachte.
Ende nicht ganz nach Plan
Selbst vergleicht Barty das Leben auf der Tour mit jenem von Sisyphos, der antiken Figur aus der griechischen Mythologie. „Profisportler verbüßen eine lebenslange Strafe, indem sie denselben Stein denselben Berg hinaufrollen. Nur sprechen wir das Urteil über uns selbst aus." Am Ende der Saison 2021 hatte die Aborigine aus dem Stamm der Ngaragu endgültig genug. Sie musste nur noch einen möglichst eleganten Abgang orchestrieren.
Eigentlich war der Rücktritt für die Qualifikationsrunde des Billie Jean King Cups im März gegen die Slowakei geplant. In Folge von Vladimir Putins Invasion der Ukraine wurde jedoch Russland vom Nationenbewerb ausgeschlossen, Australien erbte den freigewordenen Platz im Hauptfeld und rückte automatisch ins Finale im November in Glasgow auf.
Buch zur Bewusstseinsbildung
Im Juli heiratete die 26-Jährige Langzeitpartner Garry Kissick, im Januar gab sie bekannt, ihr erstes Kind zu erwarten. Freilich besteht die Möglichkeit, dass Barty danach ein neuerliches Comeback feiert. Doch allein der strukturelle Aufbau ihrer Memoiren verrät einiges über ihren Gemütszustand und warum sie sich letztlich entschied, so jung zurückzutreten.
Die meisten Biografien von Prominenten haben einen chronologischen Aufbau von der Kindheit bis zum Ruhm. Ähnlich wie bei ihrer variantenreichen Spielanlage am Tenniscourt springt Barty hingegen zwischen den kürzlichen sportlichen Erfolgen mit allen begleitenden Entbehrungen und ihren teilweise harten Jugendjahren mit diversen Belohnungen hin und her.
Das Ergebnis dieses in Worte gefassten Querschnittes aus Bartys Vierteljahrhundert auf Erden kann durchaus als Bewusstseinsbildung dienen, wie wir mit der begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit umgehen sollten. Ergreifend erzählt diese vom Tennis getragene Reise, welchen Tribut der Sport ihrer Seele abverlangte. Puristen, die das Filzballspiel lieben, hätten natürlich gerne noch mehr von Ashleigh Barty gesehen. Ihr selbst reichte es ganz offenbar.